Allrounder, Multitalent, Vielbegabter, Universalist – es gibt viele Begriffe für Menschen mit vielseitigen Interessen und Talenten.
Barbara Sher hat sich intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt und den Begriff der Scannerpersönlichkeit geprägt. Scanner sind laut Sher überaus neugierige Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Begabungen, die für viele verschiedene Bereiche Begeisterung verspüren. Im Gegensatz zu Tauchern, die in ein bestimmtes Wissensgebiet eintauchen und sich bis in die Tiefe damit beschäftigen, können Scanner (scheinbar wahllos) zwischen unterschiedlichen Bereichen wechseln.
Mein Leben als Scannerpersönlichkeit
Mein Leben lang hatte ich das Gefühl, ganz viele unterschiedliche Dinge zu können, aber nichts so richtig. Ich habe mich immer unter Druck gesetzt, endlich die eine Sache finden zu müssen - mein Spezialgebiet, meine Passion, meine Lebensaufgabe. Aber ich habe es nie geschafft.
Durch Shers Buch Du musst dich nicht entscheiden, wenn du 1000 Träume hast habe ich mich zum ersten Mal verstanden gefühlt. Es gab sogar einen Namen dafür: Scannerpersönlichkeit. Mir fiel es buchstäblich wie Schuppen von den Augen. Kein Wunder, dass ich diesen enormen Leidensdruck verspürte, kämpfte ich doch die ganze Zeit gegen mich selbst an.
Ist Vielseitigkeit (k)ein Luxusproblem?
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Vielfache Interessen und Ideen, die sprunghaft wechseln können - das klingt erst einmal nicht schlimm. In der Schule ist es sogar von Vorteil, wenn man in fast allen Fächern gut ist. Doch sobald es dann um eine Spezialisierung geht, zum Beispiel bei der Wahl des Berufes oder Studienfaches, ist der Vorteil dahin. Im Gegenteil, Vielseitigkeit kann zu einem enormen selbstgemachten Stress und einem chaotisch wirkenden Lebenslauf führen. Nach außen hin kann es sogar den Eindruck erwecken, kein Durchhaltevermögen zu besitzen.
Aber so ist das gar nicht. Solange ich im Flow bin, kann mich (fast) nichts aufhalten. Dann beschäftige ich mich wie besessen mit einem bestimmten Themengebiet, ähnlich einem Taucher. Doch im Gegensatz zum Taucher tauche ich nach einer Weile wieder auf und suche mir ein neues Korallenriff des Wissens, das ich erforschen kann, bis ich wieder genug davon habe. Manche Gebiete schaue ich mir intensiver an als andere. Zu manchen kehre ich immer wieder zurück, bei anderen reicht es mir, sie einmal gesehen zu haben.
Vielseitigkeit – Lebenslauf mit Kurven
Mein beruflicher Lebenslauf spricht Bände. Das Problem begann bereits mit der Wahl der Leistungskurse in der Oberstufe. Nach dem Abitur wurde es dann aber erst richtig schlimm. Etwas naturwissenschaftliches, etwas geisteswissenschaftliches, etwas sprachliches, etwas ganz anderes - was sollte ich bloß studieren?
Zunächst schrieb ich mich für Mathematik ein, begann dann aber spontan doch lieber mit Bioverfahrenstechnik. Nach einem halben Semester war mir klar, hier hatte ich mir einen richtigen Fehlgriff geleistet. Ich wechselte zum Studium der Biowissenschaften. Nach fünf Semestern und fast allen Prüfungen für den Bachelor in der Tasche schmiss ich auch das hin. Ich sah für mich keinen Sinn mehr darin und begann mit der Ausbildung zur Fachinformatikerin für Anwendungsentwicklung. Das war mein Glücksfall.
Die IT-Branche bietet unglaublich vielfältige Möglichkeiten und ist perfekt für jemanden wie mich. Ich schloss die Ausbildung erfolgreich ab und wurde übernommen. Ich durchlief ganz unterschiedliche Stationen, saugte Inhalte aus den verschiedensten Wissensgebieten auf und übte mich in diversen Tätigkeiten. Seit 2011 bin ich nun im selben Betrieb, wenn auch zwei Jahre davon in Elternzeit. Ich habe das große Glück, in einem Unternehmen arbeiten zu dürfen, das Abwechslung und Weiterentwicklung ermöglicht, ohne zwangsläufig ständig den Job wechseln zu müssen. Trotz allem wurde mein selbstgemachter Leidensdruck nicht geringer. Ich fühlte mich ruhelos, innerlich zerrissen und unfähig, mich tatsächlich dauerhaft auf eine Sache festlegen zu können.
Vielseitigkeit – Die Schwäche zur Stärke umkehren
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Dabei ist die Lösung eigentlich ganz einfach. Das Zauberwort lautet Selbstakzeptanz. Es ist völlig unsinnig, gegen die eigene Vielseitigkeit anzukämpfen. Nur wenn ich meinen Facettenreichtum akzeptiere, kann ich aufhören, ihn als Schwäche zu betrachten und ihn stattdessen als Stärke nutzen. Im Grunde ist es nämlich überhaupt nicht schlimm, über vielseitige Interessen und Leidenschaften zu verfügen. Ein Scanner tickt bloß einfach ein bisschen anders als ein Taucher. Doch das hat nichts mit mangelnder Intelligenz oder fehlendem Durchhaltevermögen zu tun. Es benötigt lediglich das individuell passende Lebens-/Berufsmodell und Verständnis für sich selbst. Mein vermeintliches Problem ist also eigentlich gar keines und vor allem stehe ich nicht alleine damit da. Die Welt ist voll von Menschen, die ähnlich gestrickt sind.
Seit mir das klar geworden ist, fühle ich mich richtig befreit. Ich muss mich gar nicht für die eine Sache entscheiden - und erst recht nicht für mein ganzes Leben. Sowieso unterliegt unsere schnelllebige Welt ständigen Veränderungen und so sind heutzutage nur die wenigsten (beruflichen) Entscheidungen tatsächlich unabänderlich und wirken sich auf das gesamte restliche Leben aus.
Vielseitigkeit – Der gemeinsame Nenner
Erstaunlicherweise habe ich nach dieser befreienden Erkenntnis festgestellt, dass meine unterschiedlichen Leidenschaften und Interessen gar nicht so weit auseinander liegen, wie ich immer gedacht hatte. Es lassen sich durchaus Überlappungen und Verknüpfungen finden. Ich war bloß bisher blind für die gemeinsamen Nenner.
Die Liebe zum geschriebenen Wort ist ein Beispiel für solch einen gemeinsamen Nenner. Kurzgeschichten, Gedichte, Blogartikel auf verschiedenen Plattformen von technisch bis amüsant, Hausarbeiten, Protokolle, Interpretationen und Erörterungen, Tagebücher, Briefe und nicht zuletzt ein ganzes Buchmanuskript. Ich habe in meinem Leben eine Vielzahl an Texten verfasst, freilich nicht immer auf freiwilliger Basis, dennoch war ich immer voller Leidenschaft bei der Sache. Auch meine Liebe für das Handlettering fügt sich optimal in diese Kategorie ein, schließlich ist die Schriftmalerei im Grunde nichts anderes als künstlerisches Schreiben von Worten.
Die Leidenschaft zu schreiben ist jedoch wenig wert ohne interessante Themen, über die sich schreiben lässt. Die Liste ist bei Weitem nicht vollständig, doch weitere Beispiele von solchen Clustern in meinem Leben sind:
- Verhaltensmuster von Menschen und Tieren: Verhaltensforschung, Neurobiologie, Hundetraining, Pädagogik, Kommunikation, Motivation, Persönlichkeitsentwicklung, Glücksforschung, …
- Schönes und Einzigartiges: Handlettering, Malerei, Webdesign, Fotografie, Häkeln, Nähen, DIY, Interior, …
- Vereinfachung: Minimalismus, Ordnung, Lesbarkeit von Texten, Clean Code, Automatisierung von Routineaufgaben, …
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Kommentare
Anonym
30. November 2018Hallo Frau Lyoner,
der Artikel spricht mir aus der Seele. Ich quälte mich fast mein ganzes Leben damit herum, dass ich nicht das "eine" Thema (auch beruflich) gefunden hatte. Die lieben Mitmenschen waren meist auch nicht gerade hilfreich mit ihren Kommentaren. Vor 10 Jahren, mit 50, stolperte ich über Frau Shers Buch "Refuse To Choose" (die engl. Version). Es war wie eine Befreiung zu lernen, dass es viele andere Menschen gibt, die ähnlich gestrickt sind. Seit ich dieses Buch gelesen habe, geht es mir gut - und was andere über mich denken, ist mir inzwischen egal. Machen Sie weiter so!
Viele Grüße
Frank
post_id: '/perspektive/2018/09/14/wenn-man-alles-kann'
Aljona
8. Dezember 2018Hallo Frank,
herzlichen Dank für deinen netten Kommentar :-)
In der Tat ist alleine schon die Erkenntnis über das Phänomen "Scanner" eine wahrhaft wohltuende Befreiung. Für mich war es eine unfassbare Erleichterung, als mir klar wurde, dass ich gar kein Problem habe, sondern mir bloß selbst eines mache, wenn ich mich unter Druck setze, eine ultimative Entscheidung für mein ganzes Leben zu treffen. Seit ich meine Vielseitigkeit akzeptiere und sie als Stärke statt als Schwäche betrachte, fühle ich mich so viel besser. Außerdem hast du völlig recht. Es ist (manchmal) echt besser, nicht auf Andere zu hören. Mit einer gewissen Ignoranz durch's Leben zu schreiten, kann teilweise ziemlich hilfreich sein ;-)
Viele Grüße und ein schönes Wochenende,
Aljona aka Frau Lyoner
post_id: '/perspektive/2018/09/14/wenn-man-alles-kann'
Pascale
7. Oktober 2019 | https://heartbeatlife.deHallo Frau Lyoner, ich habe schon so lange das Problem, dass ich mit mir hadere, weil ich irgendwie alles ein bisschen kann und trotzdem nichts richtig. Ich war so lange auf der suche nach meinem Talent und beneide andere, die ihres gefunden haben. Ich nehme mir mal den Buchtipp zu Herzen und hoffe, dass mir das Buch auch helfen kann. Vielen Dank für den tollen Beitrag :) LG Pascale
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Aljona
14. Oktober 2019Hallo Pascale! Vielen herzlichen Dank für deinen Kommentar. Ich würde mich freuen, wenn dir der Buchtipp neue Perspektiven aufzeigen kann. Mir persönlich hat es unglaublich geholfen, meine Unbeständigkeit nicht mehr als Schwäche zu betrachten, sondern als Teil von mir zu akzeptieren. Wo ich natürlich nach wie vor sehr aufpassen muss, ist es, Dinge zu Ende zu bringen. Viele Ideen gleichzeitig zu bearbeiten, birgt natürlich die Gefahr, keine davon fertig zu stellen. Da muss ich einfach immer ein Auge drauf haben. Aber ich habe festgestellt, dass es absolut keinen Sinn macht, mich selbst dafür fertig zu machen. Ganz im Sinne von: Es ist, wie es ist, aber es wird, was du daraus machst :-) Liebe Grüße, Aljona aka Frau Lyoner
post_id: '/perspektive/2018/09/14/wenn-man-alles-kann'
Hannelore
14. Dezember 2019Hallo Frau Lyoner, bin schon etwas älter 57 Jahre alt. Als kleines Kind hatte ich schon das Bedürfnis drei Dinge auf einmal tun zu wollen, (Fernseh gucken, ein Buch lesen und handarbeiten). Erst in den letzten Jahren habe ich raus gefunden, das ich eine Scanner Persönlichkeit sein könnte. Ich kann viele Dinge, aber nichts richtig und war beruflich immer an der untersten Einkommensgrenze. Ich hatte damals nicht die Möglichkeit Abitur zu machen und zu studieren, das hätte ich mir auch gar nicht zu getraut. Gibt es Scanner Persönlichkeiten, die kein Abitur und nicht studiert haben, einfach nur einen Hauptschulabschluss haben? Alles was ich bislang über Scanner gelesen habe, ist gleich gesetzt mit hoher Intelligenz, das ist bei mir nicht der Fall. Es ist leicht, einer gut bezahlten Tätigkeit halbtags nach zu gehen, um sich für den Rest der Zeit den anderen Interessen zu widmen. Ich muss Vollzeit arbeiten, um überhaupt das nötigste im Leben zu haben und bin dann so erledigt, das nichts andere mehr möglich ist. Es interessiert mich wirklich, ob eine Scanner Persönlichkeit mit hoher Intelligenz gleich gesetzt wird? Danke vielmals...liebe Grüße, Hannelore
post_id: '/perspektive/2018/09/14/wenn-man-alles-kann'
Aljona
15. Dezember 2019Hallo Hannelore,
vielen Dank für deinen Kommentar und deine Offenheit. Der Begriff der Scannerpersönlichkeit geht auf Barbara Sher zurück und beschreibt – zumindest nach meinem Verständnis – einfach nur ein bestimmtes Verhaltensmuster, nämlich vielseitige und wechselnde Interessen. Oftmals ist dieses Verhaltensmuster mit einem Leidensdruck verbunden, wenn das Gefühl vorherrscht, im Gegensatz zu anderen Menschen nichts so richtig gut zu können und sich diese Überzeugung negativ auf das Selbstwertgefühl auswirkt. Für mich hat dieses Muster der Vielseitigkeit jedoch nicht zwangsläufig mit hoher Intelligenz zu tun. Genauso wenig glaube ich, dass ein niedriger Schulabschluss automatisch mindere Intelligenz bedeutet. Sowieso tue ich mir schwer mit dem Begriff der Intelligenz. Was ist denn hohe Intelligenz eigentlich?
Du schreibst, du bist nach der Arbeit so erledigt, dass dir nichts anderes mehr möglich ist. Kannst du deine Vielseitigkeit denn irgendwie in deinem Arbeitsalltag integrieren? Welchen Dingen würdest du gerne nachgehen, wenn du die Energie dazu hättest? Das sind natürlich sehr persönliche Fragen. Gerne kannst du mir auch per E-Mail antworten. Ich freue mich von dir zu hören :-)
Liebe Grüße, Aljona aka Frau Lyoner
post_id: '/perspektive/2018/09/14/wenn-man-alles-kann'
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Da dieser Blog eine mit Jekyll erstellte statische Website ist, wird Formspree verwendet, um die eingegebenen Formulardaten an mich zu übermitteln. Bitte beachte, dass es unter Umständen einige Tage dauern kann, bis ich deinen Kommentar freigeschaltet habe und dir antworte. Danke für dein Verständnis.